… in Russland beschränkt sich, nach Auskunft unserer Reiseleitungen keineswegs nur auf die Ausarbeitung des politischen Systems. Karl Marx und Friedrich Engels sind nicht die einzigen Deutschen, die auf Russland Einfluß genommen haben.
So wurden eine Vielzahl der Bauten in den großen Städten Russlands von deutschen Architekten geschaffen. Selbst heute noch werden deutsche Architekten und Bauleiter bevorzugt nach Russland geholt, um repräsentative Projekte zu erstellen.
Allerdings stammen die dann ausführenden arbeiter inzwischen weniger aus Russland, sondern immer häufiger aus der Türkei und den ehemaligen Sowjetstaaten. Auch Polen und Rumänen arbeiten inzwischen für wenig Geld sehr viel in Russland.
Die finanzielle Schere klafft in Russland sehr weit auseinander. Arm und Reich bieten Gegensätze, die sich oft recht dramatisch dem wachen Touristenauge darstellen. Da stehen in rauhen Filz gekleidete Mütterchen vom Lande an den Metro-Stationen und bieten selbstgepflückte wilde Erdbeeren in alten Yoghurtbechern zum Kauf an. Während dessen wird Markenware eingekauft, was der Geldbeutel hergibt und auf der Straße ist alle paar Minuten eine Stretchlimousine mit Brautpaar und Gästen zu sehen. Diese Limousinen sind für 70 Euro pro Stunde zu mieten. 70 Euro sind umgerechnet der höchste Monatslohn für einen Landarbeiter außerhalb von Moskau.
Noch immer herrscht die Vorschrift, daß man nur dort arbeiten kann, wo man lebt. Auch gibt es im Wesentlichen kein Mietsystem auf dem Wohnungsmarkt. Wohnungen sind Eigentum und das ist in den großen Städten teuer. Wer nicht unbedingt am Rande der Städte wohnen will oder kann, der zahlt für eine Wohnung neueren Standards inzwischen gut 2000 bis 3000 Dollar pro Quadratmeter. So ist es nicht verwunderlich, wenn uralte und nicht sanierte Wohnungen überbelegt sind und die Wohnverhältnisse zum Teil katastrophal sind.
Auf der Straße allerdings zeigt man gern den Reichtum. Frauen gehen unendlich sorgfältig gepflegt und hervorragend gekleidet durch die Straßen. Sie sind ein optischer Leckerbissen für jeden Mann. Der "neue" Mann achtet auf guten Geruch, trägt Anzug und vor Allem Geld in der Tasche. Allerdings ist die brennende Zigarette ein unvermeidliches Zubehör des russischen Mannes. Die jungen Frauen hingegen sind kaum noch mit Zigarette zu sehen.
Selbst Uniformierte verzichten zu keinem Zeitpunkt auf das Rauchen und so kann es durchaus sein, daß der Milizionär rauchend den Verkehr regelt oder eine Fahrzeugkontrolle durchführt.
Lebensmittel sind günstig und kosten selbst in den großen städten nahezu nur die Hälfte dessen, was sie bei uns kosten. Dienstleistungen sind günstig und Markenware bei Bekleidung ist durch einen heftigen Preiskampf vieler Läden um bis zu 50 Prozent günstiger zu bekommen. CDs und DVDs sind für hiesige Begriffe spottbillig und manchmal abenteuerlich anders. So konnte ich in einem seriösen CD-Laden eine industriell hergestellte CD mit 10 Alben von Pink Floyd erwerben. 10 Alben als mp3 in superguter Qualität, versehen mit einem eigenen Player, allen Bildern aus den Alben und allen Texten als Word-Dokument. Völlig offizielle gelabelt und legal im Verkauf. Erstaunlich war der Preis, umgerechnete 7,40 Euro. Wer Lust hat, hätte dort alle Elvis-Alben incl. Bildern und Texten für umgerechnet knapp 40 Euro bekommen können.
Metrofahren und Taxifahren ist ebenfalls günstig. Die Metro kostet in der Einzelfahrt umgerechnet 1,70 Euro und man kann dafür so lange fahren, wie man innerhalb der Schranken bleibt. Die Preise für das Taxi handelt man vorher aus und ich selbst habe einen Preisverfall von einem Drittel nach Verhandlung erlebt. Dafür sollte man bezüglich der Fahrweise lieber die Augen schließen.
Fußgänger leben in den Großstädten gefährlich. Zebrastreifen bedeuten keineswegs Vorfahrt und so kann es durchaus sein, daß man die 6- bis 18-spurigen Straßen lieber per Tunnel unterquert oder sich viel Zeit für einige Sprint-Etappen nehmen muß. Die Autofahrer leben anscheinend nach dem Prinzip "No risk – no fun!" und fahren, was das Zeug hält. Das Material ist inzwischen weitestgehend westlichem Standard angepasst. Weitestgehend heißt aber auch, es fahren noch immer zwischendurch tüv-freie und sehr kuriose altertümliche Gefährte im Gewimmel herum. Manchmal riecht es nach dem Vorüberfahren eines Fahrzeuges sogar noch nach Holz. Alte mit Holzkohlegas betriebene Ladas tuckern dann um die Ecken. Die Verkehrsampeln wurden vor Kurzem modernisiert und bieten eine Einrichtung, die wir meinetwegen gern hierzulande einführen könnten.
An den Auto- und Fußgängerampeln befinden sich rote bzw. grüne Digitalanzeigen, welche die Wartezeit bis zum nächsten Rot bzw. Grün signalisieren. Auch blinkt das grüne Ampellicht fairerweise noch ein paar mal auf, bevor es Gelb und sofort danach Rot wird. So bleiben tatsächlich die Kreuzungen frei und Fußgänger können noch am Bordstein entscheiden, ob sie es binnen 3 Sekunden bis zur anderen Straßenseite schaffen oder lieber stehen bleiben.
Ich habe hier mal ein kurzes Video aus der Stadtführung bei Youtube hochgeladen. Das Wackeln kommt von der Federung des Reisebusses, mit dem wir gefahren wurden. Der Sprung in der Windschutzscheibe würde deutsche Polizisten elektrisch machen, kratzt dort aber niemanden.
Wer Ton einschalten und hören kann, der achte mal bitte auf die Äußerungen der Reiseleiterin. Erstaunlich ist immer wieder, daß man, anders als in anderen Ländern, die heutigen Deutschen nicht für die böse Vergangenheit zwischen 1941 und 1945 verantwortlich macht. Ganz offensichtlich hat man selbst viel zu viele Regimewechsel erlebt, als das man Vergangenes als Last in die Zukunft trägt.
Vielerorts sieht man Denkmäler an die Zeit des 2. Weltkrieges, doch man blickt in Russland ganz offensichtlich nach vorn und wünscht sich den Beitritt zur EU. Aus den vielen kleinen Gesprächen hörte ich diese Sehnsucht heraus und bekam sie mitgeteilt. Sicher, ich wünsche es den Bürgern der Russischen Förderation, in Freiheit und unbelastet von der Willkür irgendwelcher Militärs leben und reisen zu können. Doch wir wissen ja auch, was EU bedeutet: Ein freies und sehr teures Leben voller Bürokratie und unterschwelliger Unzufriedenheit. Ob die russischen Bürger sich dieses Preises bewußt sind, wage ich zu bezweifeln.
Dennoch hoffe ich, daß wir in 10 Jahren ungehindert dort ein- und ausreisen dürfen. Ich habe erlebt, wie beklemmend die russische Staatsgewalt noch immer arbeitet. Und ich wünsche den Menschen in Russland, daß diese Beklemmung endet. Dann denke ich, werden wir mit den freundlichen und selbstbewußten Nachbarn gut auskommen.