Draußen drückt es mit Gewalt auf die knisternden Dachflächenfenster und die Balken über mir knacken, wie noch nie. Und mein Gebälk in der Hirnstube knackt ebenfalls.
Denn ich nutze die Zeit des Hausarrestes wegen des Unwetters dazu, diesen schrecklichen Umzugskarton voller Papiere anzugehen.
Ich habe ihn sortiert. Sortiert nach "Vernichten und Schreddern", "Altpapier", "Müll" und "Aufheben". Gedanklich kommt in der Kategorie Aufheben noch die Untergruppe "Wiedergefunden und irgendwie wertvoll" hinzu. Am Schlimmsten ist heute die Begegnung mit der Vergangenheit. Dieser Karton war nicht nur voller Papier. Er war ein Sammelsurium hauptsächlich übler Dinge. Schulden, Briefe voller Wut, Trauer, nie gehaltener Schwüre, Drohungen, Scheidungsunterlagen, alles war dabei. Lügen tauchten wieder auf, Versprechungen und Namen. Doch es gab auch leise Schmunzler, traurige Begegnungen und manches Lächeln. Bilder meiner Tochter über die Trauer meines Auszuges und über die Freude ihres Lebens bei mir. Die Urkunden ihrer seltsamen Namensgeschichte und die Briefe zu meiner ersten Scheidung. Welch ein Wahnsinn damals getobt hat, wird mir jetzt erst so richtig bewußt, gaube ich.
Zeugnisse, Bescheinigungen, Zertifikate und Zeugnisse der Probleme am Arbeitsplatz nach dem Führungswechsel. Meinen ersten Personalausweis habe ich ebenso gefunden (immerhin schon mehr als 30 Jahre alt), wie meinen aktuellen und abgelaufenen Reisepass und den davor. Ich habe die Visitenkarte des Malers meines Porträts auf dem Cover meines Buches wiedergefunden und längst verloren geglaubte Unterlagen.
Begegnet ist mir ein Foto von mir am Steuer meins Wagens. Ein Foto der Radarmessung, weil ich zu schnell gefahren war. Ich war damals auf dem Weg aus der Therapie ins Wochenende nach Hause. Das Gesicht angespannt und garnicht bei mir. Es war damals ein schlimmer Freitag, denn wir hatten vorher noch Ergotherapie und Thema war eine Zeichnung unserer Gedanken zum Märchen "Fundevogel". Diese Therapiesitzung war schlimm für mich, sie hat viel aufgewühlt und eigentlich hätte ich nicht ins Wochenende fahren wollen. Darum auch dieses Gesicht auf dem Foto.
Und Ihr glaubt es kaum, ich suche mir noch das damals gemalte Bild heraus, um nochmal alles rund zu machen und komme nicht weiter, schließe es dennoch gedanklich ab. Ich setze mich dann zum Abschalten an den Rechner, sehe den Märchenblog in den Top15 und klicke. Dort ist aktuell grad das Märchen "Fundevogel" zu hören. Da ich die Märchen alle modemfähig mache, habe ich mich dann entschlossen, sofort umzuwandeln und an Bea zu senden. "Anfassen und loslassen" hat geklappt. Jetzt schreibe ich noch diesen Beitrag und mir wird mit jedem Wort wohler.
Diese Kiste war ein Sammelsurium schlimmer Dinge. Sie war es!
Ich habe hingesehen, angefasst, aussortiert und losgelassen. Jetzt wartet noch eine Menge Arbeit zum Schreddern auf mich, doch der erste und zweite Schritt ist getan. Zwischendurch sind mir noch ein paar Themen eingefallen, über die ich noch schreiben sollte. Doch eines nach dem Anderen.
Ich bin jetzt von ein paar Stunden Sicht- und Sortierarbeit erschöpft. Sicherlich aber nur von der Anspannung. Und die legt sich jetzt, mit dem Klick auf den Button "Speichern", der für mich eigentlich "Loslassen" heißt.