Einige Sätze vorweg: Mit den nachfolgenden Aussagen gebe ich meine über 12-jährige Erfahrung mit obdachlosen Personen wieder. Ich war im Laufe meiner Tätigkeit als Verwaltungsvollzugsbeamter für die Obdachlosenaufsicht zunächst einer Stadt und später für eine Gemeinde zuständig und verantwortlich. Das bedeutete einen äußerst engen Kontakt mit Obdachlosen und obdachlos werdenden Personen. Meine Erfahrungen entsprechen der Zusammenfassung von mehr als 100 Einzelfällen.
Ich habe bei Inge aus HH soeben das Thema Obdachlose gelesen und nehme es einfach mal zum Anlaß, meine eigene Meinung und Erfahrung dazu kundzugeben.
Ich unterscheide ganz deutlich die Bettler in den Straßen von den Obdachlosen und diese wieederum von den Nichtsesshaften. Die Bettler sind für mich keineswegs alle obdachlos, denn ein großer Anteil davon besitzt eine Wohnung und durch geregeltes Einkommen einen entsprechenden Lebensstandard. Sie sind eine besondere Form der Gesellschaft und ich lasse sie hier einfach mal links liegen, da sie nicht eigentlich Thema sind.
Obdachlos ist ein Mensch, der keine Wohnung hat. Ein Mensch wird obdachlos, wenn er seine Wohnung verliert, aus welchen Gründen auch immer. Wenn er keine neue Bleibe hat, dann ist er "ohne Obdach". Er würde im Grunde auf der Straße leben müssen, wenn er nicht bei Freunden oder Verwandten unterkommen kann. Was im Übrigen die meisten Personen machen, wenn sie ihre Wohnung verlieren. Ein kleiner Anteil jedoch wird bei den Ordnungsbehörden gemeldet oder meldet sich selbst. Dann ist die Behörde kraft Gesetzes verpflichtet, diesem Obdachlosen eine schlichte Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Diese Obdachlosenunterkünfte müssen von jeder Kommune vorgehalten werden und sind im Erscheinungsbild und in der Ausstattung sehr vielfältig.
Oft handelt es sich um einzelne Wohnungen aus dem sozialen Wohnungsbau, denen nicht anzusehen ist, daß sie solche Unterkünfte sind. Manche Städte und Gemeinden halten Häuser mit Zimmern in verschiedenen Größen parat, in die Obdachlose kraft Verwaltungskat eingewiesen werden. Diese Sammelunterkünfte wirken oft wie Kasernen oder andere Gemeinschaftsunterkünfte. Niemals sollte man vergessen, daß solche Unterkünfte nur der vorübergehenden Unterbringung dienen sollen. Der Obdachlose wird nur befristet eingewiesen und muß sich dauerhaft um eine normale Wohnsituation bemühen. Hat er kein Einkommen, so werden die Gebühren im Rahmen der Grundsicherung getragen. Sie sind in jedem Falle angemessen.
Obdachlose sind also nicht gezwungen, auf der Straße zu leben. Fühlen sie sich nicht in der Lage, in einer Unterkunft mit Etagendusche (nur als Beispiel aus meiner Praxis) und einer weiteren Person in einer Doppelunterkunft zu leben, dann ziehen solche Menschen oftmals in die Parks und Straßen. Sie sind dann nicht mehr obdachlos, sondern "nichtsesshaft". Damit haben sie allerdings bei einer entsprechenden kostenfreien Registrierung bei ihrer Ordnungsbehörde einen anspruch auf das sogenannte "Nichtsesshaftengeld", das in Tagessätzen meist bei den Kreisbehörden ausgezahlt wird. Dieses Geld entspricht meistens dem entsprechend aufgeteilten Regelsatz der Sozialhilfe, allerdings ohne Unterkunftskosten. Für Nichtsesshafte stehen in größeren Städten und Gemeinden notunterkünfte zur Verfügung, die kostenfrei oder gegen Antrag von der zuständigen Behörde übernommen werden. Die meisten Nichtsesshaften kennen das Prozedere und vor Ort gibt es auch entsprechende Helfer.
Die klassische Karriere in die Obdachlosigkeit beginnt meiner Erfahrung nach meist mit den üblichen Beziehungs- und Lebensproblemen. Entweder kommen die Alkoholprobleme sofort hinzu oder später. Beides hängt meit unmittelbar zusammen. Die Auflösung der Beziehung, der Verlust der Arbeitsstelle und die mangelnden Mietzahlungen führen dann zur Zwangsräumung und damit zur Obdachlosigkeit. Sehr häufig habe ich von solchen Vorgängen erst erfahren, als schon der Räumungstermin durch den Gerichtsvollzieher mitgeteilt wurde. Dann war es meist nicht mehr möglich, gemeinsam mit der Sozialarbeit konkrete Hilfen zu bieten.
Der soziale Abstieg in die Obdachlosigkeit, der Umzug in die Unterkunft, wirken noch verstärkend auf die Alkoholproblematik und den Druck auf die Psyche. Ich konnte in nahezu allen Fällen das Greifbarwerden der Hoffnungslosigkeit verzeichnen und das Eintreten völliger Lethargie.
Hier beginnt nun eine gefährliche Gratwanderung, bei der die meisten frischen Obdachlosen zur falschen Seite hin abrutschen. Denn so defekt wie die Menschen in einer Obdachlosenunterkunft auch sozial gesehen zu sein scheinen, so bilden sie dennoch in sich eine starke Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft fängt jeden Neuling auf und stellt ihn recht schnell vor die Wahl dabei zu sein oder unterzugehen. Ich habe keinen Fall erlebt, der nicht von der Gemeinschaft integriert wurde! Wir dürfen nun allerdings nicht vergessen, daß Alkohol in diesen Unterkünften eine lebenswichtige Rolle spielt. Die Gemeinschaft in den Unterkünften lässt jedem Obdachlosen einen eigenen Spielraum, zwingt ihn aber gleichzeitig auch in die gewachsenen Regeln der Gemeinschaft. Es ist keine Frage, daß es auch hier erhebliche Konflikte gibt und auch kriminelle Vorgänge aller Art. Meist werden diese jedoch innerhalb kürzester Zeit innerhalb der Unterkunft geregelt.
Einigen meiner Kollegen und mir war es gelungen, ein besonderes Vertrauensverhältnis zu den Gemeinschaften und den Personen darin aufzubauen. So hatten wir Einblicke in Vorgänge und Verhaltensmuster, die uns die Arbeit erleichterten und die Kommunikation zwischend er Verwaltung und den Betroffenen beschleunigte. So konnten wir beispielsweise während eines sehr kalten Winters verhindern, daß noch mehr Türen im Rahmen eines Lagerfeuers in einer der Unterkünfte verheizt wurden, indem wir den höheren Heizbedarf gegenüber dem Sozialamt schlüssig begründen konnten. Anderseits haben wir Forderungen der Verwaltung in intensiven Gesprächen um einen Bierkistenturm herum mit den Obdachlosen problemlos durchsetzen können.
Die Sprache ist sehr direkt, die Handlungen auch. Der Geruch ist unendlich grausam und der Schmutz in diesen Unterkünften entspricht im Prinzip dem einer Mülldeponie. Es ist müßig, die Obdachlosen zur Reinlichkeit zu zwingen oder aufzufordern. Ich habe feststellen müssen, daß eine Renovierung der Unterkunft und das Beschaffen sauberer Möbel und Bekleidung lediglich zu tiefen Depressionen führte und binnen kürzester Zeit war der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt.
Das Fazit zur Sauberkeit und langfristigen Obdachlosigkeit klingt grausam: Diese Menschen WOLLEN so leben, wie sie leben. Sie haben sich mit diesem Lebensstil abgefunden und geraten in große Schwierigkeiten, wenn sie diesen geschützten Raum verlassen müssen.
Die Obdachlosen in den Unterkünften leben in einer eigenen Gesellschaft, die ihnen Halt gibt, den sie hier bei uns nicht hatten. Selbstverständlich ist es für uns Normalbürger unverständlich, wie man so alkoholisiert, schmutzstarrend und primitiv leben kann. Doch es geht. Ich habe Menschen kennengelernt, die ihre Ausscheidungen in Eimern und Behältern in ihrem Zimmer gesammelt haben. Weil sie kein psychische Kraft hatten, diese Behältnisse zu entleeren. Ich kannte Menschen, die über Jahre hinaus keine warme Mahlzeit mehr hatten, weil sie den defekten Elektroherd nicht reparieren lassen wollten. sie hätten ihn dafür abräumen müssen und eine Gasse zum Gerät freimachen müssen. Dazu fehlte die Kraft.
Ich habe Menschen in solche Unterkünfte eingewiesen, weil sie zur Räumung ihrer Wohnung nach der Scheidung verpflichtet wurden. Diese Menschen habe ich einige Jahre später im Sarg aus der Unterkunft tragen lassen. Wir haben immer wieder Obdachlose in normale Wohnverhältnisse überführt. Mehr als 90 Prozent sind wieder in die Unterkünfte zurückgekehrt. Weil sie einsam waren. Oder weil sich die Hausbewohner (zu Recht) über die anderen Obdachlosen beschwert haben, die beim neuen Bewohner Party machten.
Wer sich gegen die Obdachlosigkeit und für die Straße entscheidet, der erlebt, trotz aller Individualität, ebenfalls eine verschworene Gemeinschaft der sogenannten "Berber". Man respektiert sich und die Geschichte des Anderen und man liebt die Freiheit. Auch wenn sie manchmal tödlich endet. Gerade im Winter. Doch das wird in Kauf genommen. Wer jemals ernsthafte Gespräche mit Nichtseßhaften geführt hat, der wird auf die Frage, warum er so lebt immer die Antwort erhalten "Weil ich mein eigener Herr bin und tun und lassen kann, was ich will."
Mag die Ursache für Obdachlosigkeit auch vielfältig sein, aus ihr heraus führen nur äußerst wenige Wege, die sehr selten begangen werden.
Meine Kollegen und ich haben viel darüber nachgedacht, wie solchen Menschen wirkungsvoll geholfen werden kann. Einigkeit herrschte darüber, daß der Halt der Gemeinschaft nicht zu unterschätzen ist. Und die Wirkung des Alkohols als Verhinderer aller Maßnahmen gegen die Obdachlosigkeit. Perfekt wäre es, Obdachlose in die Alkohol- und Verhaltenstherapie zu verbringen, den Wohnort zu verändern und das soziale Umfeld. Durch Umzug und konsequente Sozialarbeiter-Begleitung. Wer zahlt das? Und welchen finanziellen Nutzen bringt das? Das sind dann die verwaltungstechnischen und gesellschaftlichen Fragen, die zu beantworten sind. Somit bleibt dieses Konstrukt nur für besondere Einzelfälle erhalten, die besonders lohnenswert erscheinen.
Als wesentlich praxisnäher hat sich herausgestellt, daß Tagelöhne und spontane Arbeitsaufträge erheblich besser wirken. Wir haben im Sommer vor einer Unterkunft einen großen Kreis von Bewohnern erlebt, die mit Messern Kupfelkabel von der Isolierung befreiten. Sie wurden von einem Schrotthändler dafür zwar gering, aber immerhin entlohnt. Die Ausführung dieser Arbeiten sprach sich herum und im Winter schlugen einige der Bewohner Weihnachtsbäume gegen Entgelt. Andere mähten Rasen oder übernahmen Grabpflegearbeiten und Kehrdienste. Auf diese Weise stieg das Selbstwertgefühl und der Kontakt zur Außenwelt wurde positiver. In einigen Fällen führte diese dann später zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und einer regelmäßigen Tätigkeit. In ganz wenigen Fällen änderte sich sogar die Wohnsituation mit Hilfe der Arbeitgeber.
Aus meinen Erfahrungen heraus kann ich heute sagen, daß Obdachlosen am meisten Arbeit hilft. Man darf nicht zuviel erwarten und man darf sich dessen auch bewußt sein, daß es vielfach auch an Durchhaltevermögen mangelt. Aber kleine Tätigkeiten gegen kleines Entgelt helfen mehr als der Euro in die bettelnde Hand.
Ich habe keinen Obdachlosen kennengelernt, der gebettelt hätte. Manche Berber betteln, insbesondere wenn sie Alkoholiker sind. Dann hilft das Wissen um die Hintergründe. Und die Gabe von Nahrung mehr als Geld. Wer sich engagieren will, der wende sich an die sogenannten "Tafeln" in den Städten und Gemeinden oder frage nach den Unterkünften für Nichtseßhafte, ob er da ein paar Stunden mitarbeiten oder Sachspenden leisten kann.
Niemand muß in diesem Land verhungern oder ohne Wohnung sein. Der Lebenserhaltungssatz beträgt 345 Euro monatlich, zuzüglich Unterkunftskosten. Das ist wenig, gebe ich zu. Doch es reicht aus, um essen und trinken zu können. Wer allerdings in solchen Situationen noch raucht und Alkohol braucht, der darf nicht vergessen, daß er einen Teil seines Hungers selbst verschuldet. Das sollten auch wir nicht vergessen! Und das Recht auf eine ärztliche Einweisung in eine Entziehungsklinik hat auch ein Obdachloser.
Das war ein wenig Hintergrundwissen. Die Vielfalt der Einzelschicksale ist unendlich. Ich könnte Stunden darüber berichten.