Um dieses Online-Tagebuch zu verstehen, sind einige Worte zu mir und meiner Vergangenheit nötig. Der Blog beginnt zu einer Zeit, in der ich als Alleinerziehender zumindest die Hoffnung hatte, dass irgendwann mal wieder alles gut wird. Um es vorweg zu schicken, es wurde als gut, sonst gäbe es mich nicht mehr.
Ich wurde 1959 in einer niedersächsischen Großstadt als Arbeiterkind geboren. Aufgewachsen bin ich einem Stadtviertel, das man heute als Brennpunkt und Ghetto bezeichnen würde. Zwischen Malochern, Arbeitslosen, Alkoholikern und nicht weit entfernt vom Quartier mit horizontalem Gewerbe wurde von meiner Familie immer versucht “etwas Besseres” darzustellen.
Meine Eltern wurden unter hässlichen Umständen geschieden, wir zwei Kinder unter den Großeltern und dem dann alleinerziehenden Vater aufgeteilt. Der Kontakt zur Mutter wurde verboten. Mein Vater wurde wieder verheiratet, es war eine ausgehandelte Ehe, weil die Schwester eines Schuhmachers in der Nähe drohte, ein ältliches unverheiratetes Frauenzimmer zu werden. Ich wurde in die Wohnung meines Vaters, seiner Frau und deren späteren Sohn aufgenommen.
Es kam zu täglichen Misshandlungen, Missbrauch wurde später ein Thema und der Alkoholismus meines Vaters tat sein Übriges. Ich wurde schnell still, vorausschauend und war trotz eigener jugendlicher Alkoholmissbrauchsausflüge ein sehr guter Schüler. Die Angst vor Prügeln war dafür ein mächtiger Motor. Meine Empathie wurde damals aus der Not heraus entwickelt, Schläge und mehr vorher zu ahnen, um schützend in meiner eigenen inneren Welt zu verschwinden.
Als Heranwachsender war ich orientierungslos, was Leben, Beruf, Freundschaften und Beziehungen angeht. Ich behaupte von mir noch heute, dass ich kein guter Freund bin, der Beziehungen pflegt. Ich denke oft an meine Leute, kann aber aus unerfindlichen Gründen keinen engen Kontakt halten. Körperliche Nähe ist mir noch heute sehr zuwider und braucht sehr viel und lange Vertrauensarbeit, um sie zuzulassen.
Als Jugendlicher habe ich gemeinsam mit anderen “Ghetto-Kindern” meine eigene heile Familie aufgebaut. Das wurde zur Parallelwelt zwischen Schule, familiärer Gewalt und dem nach außen aufstrebenden Gutbürgertum. Der äußere Schein musste immer gewahrt werden. Die Gewalt in der Familie endete erst, als ich mit 18 Jahren aus der elterlichen Wohnung auszog und im gleichen Miethaus wie Vater mit frau und Großeltern eine eigene Behausung bewohnen konnte. Von den damals 409 DM Ausbildungsvergütung musste ich allein 180 DM Miete zahlen und dafür sorgen, dass ich es warm zu etwas zu essen hatte. Eigentlich war das unmöglich und wurde es auch. Geld wurde zum Thema und blieb es viele Jahrzehnte.
In Sachen Beziehungen war ich aus heutiger Sicht unbeholfen, dumm wie Stroh und pendelte so von einer chaotischen Liebe in die nächste. Zwei gescheiterte Ehen, darunter eine mit Nachleben der elterlichen Beziehung durch Gewaltexzesse und Alkoholmissbrauch. Ich wurde erneut zum Opfer einer gewalttätigen Person und nicht in der Lage, mich zu wehren, geschweige denn Hilfe zu holen. Als zwei Meter großer Bär von einem Mann gegenüber einer kleineren und tötungswilligen Frau offiziell das Aus zu erklären, war mir ebenso unmöglich, wie zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Scham war ein großes Thema. Als Ausweg blieben erst mehrere Suizidversuche und später dann ein längerer Klinikaufenthalt. Jahre später schaffte ich die Trennung, wurde völlig überschuldet alleinerziehend und glitt erneut in eine unglückliche Beziehung. Meine therapeutisch aufgearbeiteten Themen zur ungeklärten Sexualität, Beziehungsunfähigkeit, Depression, unterdrückter Wut und der fehlenden Authentizität, haben mich noch viele Jahre begleitet. Das waren die Folgen der Kindheit mit unwissentlicher Fortsetzung als Erwachsener. Es brauchte einige Jahre des Arbeitens an und mit mir, um diese Schatten der Vergangenheit zu erkennen, zu verstehen und als das abzulegen was sie waren: Vergangenes und Unveränderliches.
Mit Beginn des Bloggens war ich am Beginn meiner heutigen und zufriedenen Beziehung, alleinerziehend, noch nicht geschieden, arbeitslos und insolvent. Heute bin ich schuldenfrei, arbeite seit vielen Jahren in Vollzeit, bin sehr zufrieden verheiratet, ein glücklicher Opa der Kinder meines Stiefkindes und habe zu den eigenen Kindern auf deren Wunsch hin keinen Kontakt. Ich glaube, sie würden sich melden, wenn es ihnen nicht gut geht.
Beruflich bin ich angekommen, nachdem ich nahezu alles ausprobiert habe, was mir möglich war. Kraftfahrer, Autovermieter, Rettungsdienstler, Vollzugsbeamter, Haushaltsauflöser, Computerladeninhaber, Dozent, Jugendgruppenleiter, privater Arbeitsvermittler, Ausbilder, Coach, Tiefkühlkostverkäufer, Flohmarkthändler, Buchautor, Weihnachtsmanndarsteller, Notrufleitstellenmitarbeiter und vieles mehr habe ich gearbeitet. Heute bin ich einem helfenden Beruf tätig und arbeite mit Menschen in schwierigen Lebenslagen. Wie sagte mir einst eine gute Psychologin? “Der beste Arzt der Welt wäre derjenige, der schon alle Krankheiten durchlitten hat.”
Viele meiner Erlebnisse habe ich in Geschichten niedergeschrieben, die heute Menschen zum Lachen bringen. Auch das ist eine Form der Vergangenheitsbewältigung. Was mir jetzt an meinem Lebensabend geblieben ist, sind nur noch Erinnerungen an die schlimmen Zeiten und das Signal an alle Menschen da draußen, dass es möglich ist diese Ereignisse zu überleben. Es kann alles gut werden, wenn du daran glaubst.