Ich habe schon mein ganzes Leben lang Schmerzen. Seit Einsetzen meiner Erinnerungen empfinde ich Bewegung und insbesondere sportliche Betätigung als quälend, schmerzhaft und mühsam. Daran haben auch Schulsport und spätere Besuche im Fitnessstudio nichts geändert. Der Schmerz in mir ist in jeder Sekunde meines Lebens vorhanden, mal extrem stark und dann wieder als Dauerschmerz anwesend, niemals an der gleichen Stelle im Körper und doch häufig gleichzeitig in mehreren Regionen tobend. Das kann ein Ziehen, Bohren, Stechen, Entzündungsschmerz, Pochen, Reißen und eben alles mögliche sein. Mal scheint es ein Muskelschmerz zu sein, dann wieder eine einfache Reizung wie nach einem Sonnenbrand, dann ein Stechen wie mit einer dicken Nadel von innen am Knochen schabend und dergleichen ekelhafter Vorstellungen mehr. In jeder Sekunde meines Lebens, Tag wie Nacht, sind Gelenke blockiert, schießt ein Schmerz ein oder irritiert mich ein Stechen wie von einer Wespe an einer Stelle, wo eigentlich nichts ist. Sichtbar ist auch nichts. Keine Schwellungen, kaum mal Rötungen und vielleicht ist nur mein seltsamer Gang und die mehr und mehr werdende Krümmung des Rückens ein äußeres Zeichen dessen, was sich da in mir austobt. Wenn ich in diesem Moment berichten sollte, wo mir was und wie weh tut, dann ist das ein langer Vortrag über einen Druckschmerz hier, ein Stechen dort und so weiter und so weiter. Mancher Schmerz dauert Sekunden, ein anderer wiederum hört nie auf. Es ist wie ein fortwährendes an- und abschwellendes Brummen und Rascheln im Ohr, sozusagen ein Tinnitus der übelsten Art. Den habe ich allerdings seit einigen Jahren auch, was mich angesichts der übrigen Krankheiten eher gering belastet.
Ich beobachte gern andere Menschen dabei, wie sie sich bewegen. Wie sie gehen, stehen, laufen und dabei leicht und fröhlich sind. Das ist mir verwehrt, das funktioniert einfach nicht. Jeder Schritt ist schmerzhaft, jede Bewegung ein Widerstand und niemals gibt es Leichtigkeit. Ich habe Musik im Kopf und inzwischen vier Tanzkurse hinter mir. Tanzen tut weh, jeder „Tapp“, jeder Schwung, jede Figur, jeder Schritt und alles ist ein einziger Krampf. Manchmal sogar im wahrsten Sinne des Wortes. Der Kampf gegen die Blockaden ist mühsam und braucht stetige Kontrolle. Zudem soll ja von außen nichts sichtbar sein. Denn Mitleid will ich nicht, beschämt mich und macht mich wütend. Im Grunde soll niemand, der mich nicht kennt auch bemerken, wie eingeschränkt ich einerseits bin und wie beherrscht ich fortwährend sein muss. Sich gehen lassen fiel und fällt mir schwer.
Es gibt Entspannungstechniken, die ich nutze weil ich sie gelernt habe. Sie führen zu der kuriosen Situation, dass die Beherrschung und der Krampfkampf zwar weiterhin in mir stattfinden, an der Oberfläche jedoch Ruhe einkehrt. Außer der äußeren Ruhe wird dann eine innere „mir doch egal“-Stimmung, die erleichtert. Ich schlafe recht gut für mein Alter, meine Krankheiten und die vielen Dinge die ich tagsüber erledige. Das musste ich allerdings auch erst erlernen. Wobei ich für mich den Weg gefunden habe, mir wegen des Schlafs keinen Stress zu machen. Mein Körper holt sich das Recht auf Schlaf, wenn er lange genug unzureichend war. Dann gehe ich auch schon mal mitten in der Woche um 18 Uhr ins Bett und schlafe bis zum anderen Morgen durch. Gelassenheit ist ein gutes Stichwort im Umgang mit der Fibromyalgie und sich selbst.
Was ich als belastend empfinde ist die Müdigkeit. Durch den ständigen Kampf in und mit mir ermüde ich sehr schnell. Es ist so eine Ganzkörper- und Seelenmüdigkeit, wie ich erklären würde. Nach einer Anlaufzeit am Morgen kann ich körperliche Leistungen erbringen, wie ich sie erwarte. Berufliche und menschliche Leistungsfähigkeit wird von mir zu Recht gewünscht und gefordert. Die erbringe ich auch, so seltsam das bei dieser Krankheit erscheint. Ich habe gelernt, mir meine Kräfte einzuteilen und meine Arbeit zu organisieren, auf meine Leistungskurve anzupassen. Sicherlich spielt dabei mein Hormonhaushalt eine Rolle. Den habe ich allerdings noch nicht prüfen lassen. Das steht noch auf meiner Wunschliste. Mein Arbeitspensum erledige ich schneller als andere, um die kleinen und großen Ruhepausen zu erarbeiten. Die sind keineswegs Schläfchen am Schreibtisch, sondern der Austausch mit Kollegen und Telefonate mit Kunden am Arbeitsplatz oder das Hinsetzen und Fingerarbeiten leisten im Nebenberuf und in der Freizeit. Eine gute Tarnung könnte man meinen, doch ich bleibe auch in Ruhephasen irgendwie aktiv. In Denglisch würde man es „slow down“ nennen. Die Müdigkeit beherrscht mein Leben. Ich bin also immer müde, ohne dass man es sieht.
Wie diese Fibromyalgie entstanden ist, lässt sich nicht ermitteln. Meine Großmutter berichtete davon, dass ich im Alter von fünf Jahren mit Keuchhusten und Rheuma durch den Rettungsdienst mit Blaulichtfahrt ins Krankenhaus gebracht wurde und dort lange Zeit in Behandlung gewesen wäre. Unterlagen gibt es darüber nicht. Anhand der vielen Röntgenbilder und späteren anderen bildgebenden Verfahren ist zu vermuten, dass der Verschleiß meiner Gelenke schon sehr früh in der Kindheit begonnen hat. Ebenso könnte eine, heute verbotene, Hormonbehandlung wegen eines Hodenhochstands dazu geführt haben, dass ich ohne Chance einer regelrechten Entwicklung sehr schnell gewachsen bin. Immerhin war ich mit 13 Jahren bereits größer als zwei Meter, allerdings auch spindeldürr. Damals wahrgenommene Heißhungerattacken deuten aus heutiger Sicht schon damals auf eine mögliche Diabetes hin. Die habe ich heute unbehandelt aber beobachtet gut im Griff.
Ich bin als Kind viel geschlagen und verprügelt worden. Die Auswirkungen auf meine Knochen sind besonders im Bereich der Nackenwirbel deutlich sichtbar. Die Narben auf der Seele sind nur fühlbar. Aber darum geht es hier nicht. Schulsport war für mich Quälerei und ganz besonders der übrig gebliebene Nazi, der mein letzter Sportlehrer an der Realschule war, hat mir meine Unsportlichkeit sein deutlich gemacht. Meine Oma meinte immer, ich wäre „steif und ungelenk“. Eine meiner späteren Ehefrauen hat gelacht, wenn ich den Spalthammer zum Holzhacken schwang und dabei wie eine Giraffe beim Wasser saufen stand. Im Schulsport jedenfalls konnte ich nichts. Kein Klettern, kein Barrenturnen, kein schnelles Laufen, kein Werfen, einfach nichts. Ich war unfähig, immer als Letzter in die Mannschaft gewählt und vom Sportlehrer verachtet. Als Ausgleich zu alledem war ich in den anderen Fächern sehr gut. Das zählte jedoch in der damals schon eher körperlich orientierten Gemeinschaft nicht viel.
Was ich konnte, war Schmerzen auszuhalten. Durch die täglichen Prügel habe ich unbewusst gelernt, mit innerlich und äußerlich verursachtem Schmerz umzugehen. Weinte ich, war das Anlass für weitere Schläge. Also ertrug ich alles stumm. Der äußerlich verursachte Schmerz überlagerte den inneren Schmerz. So ist es auch heute noch. Ich erinnere mich an eine Szene während meiner Konfirmandenzeit. Da gab es ein Mädchen, dessen Namen ich noch heute weiß, die damals in einer Pause während des Unterrichts schon rauchte. Sie gehörte zu den Kindern in unserem Arbeiterghetto, mit denen man sich besser nicht befreundete oder gar anlegte. Wir wurden aus der Pause wieder in den Unterricht gerufen und ich fasste die Türklinke an, um die Tür zu öffnen. Das Mädchen drängelte sich vor, blickte mir ins Gesicht und erklärte, dass sie vorgehen werde und ich die Finger von der Klinke nehmen solle. Alle anderen Kinder standen um uns herum und beobachteten die Szene, als ich laut und vernehmlich „Nein“ sagte. Sie verlangte ein weiteres Mal, dass ich die Hand wegnehmen solle und ich verweigerte mich. Da ahm sie ihre brennende Zigarette und drückte sie mir sehr langsam auf dem Handrücken aus, während sie mir in die Augen schaute. Ich zuckte nicht einmal mit der Wimper und fühlte einfach nur dem Schmerz nach. Sie gab auf, ich öffnete die Tür und wurde zum Helden der Konfirmanden. Der Schmerz war interessant, nichts anderes. Die Narbe habe ich noch viele Jahrzehnte sichtbar auf dem Handrücken getragen. Heute ist sie zwischen all den Schattierungen meiner langsam Falten schlagenden Haut verschwunden.